Werturteilskultur

„Ordnung ist das halbe Leben“? Nun, wenn es um die tagtägliche Rezeption aller auf uns zukommenden Informationen, Erlebnisse oder Begegnungen geht wohl sogar mehr als das: der erste Reflex ist dabei normalerweise immer eine Form der Ein- oder Zuordnung. Solange dies nur der Orientierung dient – auch wenn diese schon eine Bewertung erfordert oder bedeutet – ist das ein weitestgehend neutraler Vorgang. „Diese Person kenne ich bzw. nicht“ oder „Das betrifft meine Arbeit / mich privat“ sind dafür Beispiele. Schon „interessiert mich bzw. nicht“ ist eine individuelle Wertung und bei „das finde ich gut bzw. schlecht“ sind wir endgültig beim höchst persönlichen Urteil angelangt.

„Ich bilde mir ein Urteil“; aber wie? Rein emotional? Weil mich etwas oder jemand von einer bestimmten Position überzeugt hat? Weil ich in der konkreten Sache über Fachkompetenz verfüge oder entsprechende Recherchen angestellt habe? Für mich persönlich hat die Frage nach der Qualität meiner Urteilsbildung erst dann Relevanz, wenn diese zur Basis für Entscheidungen wird. Das kann recht harmlos sein, wenn es um ein Urlaubsziel geht, wird allerdings schon wesentlich bedeutsamer, wenn etwa die Durchsetzungsmöglichkeit meiner Vorlieben das familiäre Umfeld oder den Freundeskreis betrifft. Und vollends kritisch ist mein Verhalten dann zu sehen, wenn wir in Bereiche kommen, wo meine Beurteilung Dritte (etwa bei der Personalwahl in einem Unternehmen) oder gar die Gesellschaft (Politik) maßgeblich beeinflusst.

Da ist dann „ich entscheide aus dem Bauch heraus“ angesichts dessen, was dort üblicherweise herauskommt, aber auch aufgrund des Ausklammerns sachlich-rationaler Aspekte (Hirn) sicher keine gute Idee und wohl auch verantwortungslos. Egal ob sich selbst, anderen oder der Allgemeinheit gegenüber. Nun sind wir aber gezwungen, ständig etwas einzuordnen, also zu beurteilen, um Entscheidungen treffen zu können. Das kann ganz schön herausfordernd sein und durchaus auch zu einer gewaltigen Belastung werden, wenn man sich dazu versteht, immer auch die Folgen des eigenen Handelns vorab zu hinterfragen.

Nun soll es aber hierorts nicht gleich um Krieg oder Frieden, sondern um Kunst und Kultur gehen; also gilt es zu betrachten, welche Art von Werturteilen in diesem Sektor zu beobachten sind. Gar nicht so einfach wenn man bedenkt, mit welch emotionaler Vehemenz in diesem Bereich Urteile verkündet werden. Da gibt es extatisch ihre Stars anhimmelnde Fans, freundlich wolkige oder schulterklopfende Kommentierungen oder aber auch böse bis vernichtende Kritiken. Auf welcher Basis werden diese Beurteilungen vorgenommen?

Da gilt es zunächst zwischen der Einordnung – also dem Urteil an sich – und der Art von dessen Verkündung zu unterscheiden. Auch das höchste Lob muss nicht in hysterisches Gekreische gewandet sein, totale Ablehnung muss nicht mit persönlichen Angriffen und Häme verbunden sein. Aber auch reduziert auf die hinter der Präsentationsoberfläche liegende Beurteilung bleibt offen, wie man bzw. es zu dieser gekommen ist. Gemeinhin versucht man hier über Begriffe wie „sachlich“, „objektiv“ oder gar „wertfrei“ (geht das überhaupt?) der egal in welche Richtung weisenden Aussage Gewicht zu verleihen.

Dabei ist zu beobachten, dass es einerseits die Tendenz gibt, subjektive Urteile durch Verweise auf Fakten als objektiv darzustellen, wobei es allerdings wiederum so ist, dass nicht alles irgendwie Mess- oder Feststellbare automatisch ein relevanter Parameter für die Urteilsfindung bzw. -begründung sein muss. Andererseits ist es durchaus verbreitet, die eigene Meinung kraft meist vorliegender Selbstüberschätzung als allgemeingültig zu sehen. Das bezieht sich interessanterweise sowohl auf künstlerischen Wert und auf ästhetische Wertigkeit als auch auf fiktiven oder tatsächlichen Marktwert. Was bedeutet das aber für den Umgang mit all diesen verschiedenen Werturteilen?

Ohne in soziologisch-philosophische Details abzugleiten (dafür empfehlen sich die diesbezüglichen Erörterungen bei Max Weber und anderen Vordenkern) kann man feststellen, dass es für Kunst und teils auch Kultur als Urteilsebenen nicht nur die Extrempole fachliche Expertise versus persönlicher Geschmack gibt, sondern immer auch das spezielle Fluidum einer besonderen Qualität, die bestenfalls beschreibbar ist, eigentlich aber eine Art direkter Erkenntnis darstellt, über die sogar breite Einigkeit herrschen kann (eine Parallelität zur Religion ist nicht ableugbar). Was erhebt aber ein breitflächig als höchst wertvoll gesehenes Gedicht von Goethe oder ein Sonett von Shakespeare über ein zwar allen formalen Vorgaben gehorchendes Elaborat, bei dem mich aber nichts bewegt?

Es zeigt sich, dass Werturteile – bei Kunst und Kultur aber auch anderswo – eine recht komplexe Sache sind. Und da haben wir noch gar nicht erwähnt, dass die einzelnen Wertungen in unserem Fall (künstlerisch-ästhetisch-pekuniär) oft in keiner direkten Relation stehen. Weil bei aller gebotenen Objektivität am Ende immer ein individuelles und emotionales Urteil steht. Und da es bei Wertungen immer auch um die Verletzlichkeit von direkt Betroffenen oder Vertretern anderer Ansichten geht, sollten wir eine hohe Kultur der Urteilsfindung und -verkündung pflegen. Was für die einen Kitsch ist, dürfen andere durchaus als schön empfinden und selbst individuelle Beurteilungen sollten sich sachlichen Gesichtspunkten nicht verschließen und vor allem nicht den Anspruch auf pseudo-fachlich begründete Allgemeingültigkeit erheben.

FORUM

2 Kommentare
  1. Univ.-Prof. Dr. Dr. Gerhard E. Ortner sagte:

    Bin schon wieder da!!! P.S.s GedankenSplitter berühren eine zentrales Thema menschlicher Existenz, das sich allerdings und bedauerlicherweise nicht „wissenschaftlich“, sondern nur „philosophisch“ bearbeiten lässt. Über den Unterschied können wir demnächst einmal philosophieren. Hier geht es um die Frage: Warum urteile ich so, wie ich urteile! Allgemeiner: Warum denke ich das, was ich denken, und das so, wie ich es denken. Wir stecken so voller unreflektierte Informationen – ich nenne sie „Mene“ – , die unsere BeWertungen beeinflussen, dass wir es schwer haben die „üblichen Verdächtigen“ zu stellen. Trotzdem sollten wir es versuchen. Großes Problem: Das muss jeder selbst und für sich tun, sonst ist es für die Katz – oder „die Gesellschaft“, was ich für dasselbe halte.
    Liebe Grüße aus dem Ambulatorium für befreites Denken. Der nachsichtig gewordene GEO

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  2. Gerhard Reznicek sagte:

    Dieser Beitrag ist wie immer sehr tiefgehend und deckt nahezu alle denkbaren Wenn und Aber ab, welche es bei der Urteilsfindung bzw. Beurteilung künstlerischer „Produkte“ gibt. Genau deshalb, also wegen der Komplexität der Sache, wird es wahrscheinlich doch viele geben – ich zähle mich dazu – die dann letztlich doch „aus dem Bauch heraus“ entscheiden.
    Es ist ein eigener Reiz, wenigstens einen Bereich unseres Lebens zu haben, dessen Wert für uns Menschen nicht durch konkrete Regeln und gesetzliche Vorschriften bestimmt wird, sondern einzig durch das Gefühl des Betrachters oder Hörers. Da spielt es kaum eine Rolle, wie der augenblickliche Marktwert eines Werkes für die Kulturszene sein mag. Dass manche dort Schaffende die breite Masse der Kunst-Interessierten meiden, weil sie deren Gefühle nicht bedienen können oder wollen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Man erklärt sogar rundheraus, dass die Hinwendung zum Gefühl etwas Rückständiges, ja Primitives sei.
    Anderseits lehrt uns die Geschichte, dass die landläufige Beurteilung von Kunst sehr schwanken kann. Das mahnt zur Vorsicht, wenn man die Rechtfertigung für ein Urteil nur an Gefühlen festmacht.
    Jedenfalls ein wahrscheinlich nie enden wollendes Thema der Diskussion, die leider vielfach mit religiösem Eifer ausgefochten wird …

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Peter Schneyder