Kultur der Verzögerung

Das kurze Innehalten, bevor man so richtig loslegt, ist in den meisten Fällen sicher als Tugend zu sehen. Wieviel dann doch nicht oder nicht so Gesagtes hat immer wieder Beleidigungen verhindert oder sogar Beziehungen verschiedenster Art gerettet. Noch deutlicher wird dies, wenn es um Gewaltanwendung geht: von der doch nicht erteilten Ohrfeige bis zum letztlichen Zurückschrecken vor dem Auslösen eines Waffengangs. Da zeigt sich auf allen Ebenen, dass es im menschlichen Miteinander geradezu unabdingbar ist oder zumindest sein sollte, sich vor der Ausführung selbst einer spontan notwendig scheinenden Handlung zumindest noch einmal deren zwingende oder auch nur mögliche Folgen bewusst zu machen. Zweifellos eine kulturelle Errungenschaft.

Im anderen Extrem kann dies aber natürlich zu totaler Lähmung führen. Vor lauter Vorsicht, Rücksicht oder Furcht wird nichts entschieden, wird alles endlos zerredet statt erledigt, werden dringend notwendige Dinge unter Inkaufnahme von Schädigung anderer oder auch seiner selbst verabsäumt, werden Verfallstermine versäumt. Das kennen wir natürlich von der Politik oder in der Verwaltung. Aber wie ist das bei uns selbst mit dem „auf die lange Bank schieben“? Mit dem Warten, dass sich etwas vielleicht ohnehin von selbst erledigt?

Besonders häufig ergibt sich in – meist sinnlos groß besetzten – Sitzungen folgendes Szenario: In sachlich sauber aufbereiteter Darstellung wird ein Vorschlag präsentiert. Zustimmendes Nicken macht sich breit. Da wird ein klitzekleiner, im Normalfall gemessen am Wesentlichen des Vorschlags unbedeutender Einwand oder auch nur Hinweis laut. Und schon geht man mit „na dann eben nicht“ zum nächsten Tagesordnungspunkt über. Ohne auch nur ein zartes „Wieso?“ zu versuchen. Hier geht es nicht darum, eine Entscheidung durch nochmaliges Hinterfragen auf ihre Stichhaltigkeit hin abzusichern, sondern ausschließlich um die Vermeidung der oft mühsamen Prüfung von Aspekten hin zu einer tragfähigen Lösung und vor allem auch darum, keinesfalls Verantwortung für etwas zu übernehmen, wo es vielleicht einmal heißen könnte „aber ich habe doch …“. Hier zeigt sich deutlich der evidente kulturelle Unterschied zwischen reflektiertem Handeln und zögerlichem Lavieren.

Nicht umsonst gilt es als hohe Kunst des Verhandelns, zu für alle Beteiligten akzeptablen, im Idealfall auch vorteilhaften Lösungen zu kommen. Auch da gibt es verschiedene Herangehensweisen, unterschiedliche kulturelle Ausformungen. Aber wirklich groß sind die Unterschiede zwischen einer Diskussion von Eltern mit ihren Kindern darüber, was man darf oder bekommt und der hohen Politik, wo es unter Einsatz von verbalem oder tatsächlichem Säbelrasseln um weitreichende Entscheidungen geht (oder zumindest gehen sollte) vom Prinzip her nicht. Das sollte uns wohl zu denken geben.

Rein technisch kann Bremsen – etwa bei Fahrzeugen – Leben retten. Wie dargelegt auch beim Entscheiden. Aber es kann auch das Gegenteil bewirken. Wie viele Menschen sind wohl schon umgekommen, weil ihnen keine rechtzeitige Hilfe zuteilwurde? Diese Ambivalenz macht deutlich, wie sehr wir direkt oder indirekt davon betroffen sind, auf welche Art und Weise – und das ist ja die jeweilige kulturelle Befindlichkeit – wir agieren oder um uns herum gehandelt und entschieden wird. Also machen wir uns bewusst, dass wie wir etwas tun oder lassen oft genauso relevant ist, wie die eigentliche Botschaft oder Aktion. Würden dies alle tun, könnte man vielleicht tatsächlich unsere Welt verändern.

FORUM

1 Kommentar
  1. Gerhard E. Ortner sagte:

    Lieber K+K-Chef,
    ich freue mich, dass Du mit „Kultur“ „LebensArt“ verbindest. Kann man tun. „Art und Weise“ wäre auch möglich. „StreitKultur“, „UnternehmensKultur“ etc. sind Beispiele dafür. „LebensArt“ kann man natürlich auch gleich als „LebensKultur“ bezeichnen. Egal: die „VerzögerungsKultur“ ist wohl eine der am weitesten verbreiteten Möglichkeiten, Dinge jeglicher Art und Dringlichkeit nicht (gleich) zu erledigen. Was den Vorteil hat, sie womöglich gar nicht zu Ende bringen zu müssen. Das hat ja Georg Kreisler in einer seiner nichtarischen Arien schwer nachahmlich beschrieben: „.. und so diskutieren sie noch heut!“ Die unbestimmte Zeitangabe reimt sich bei GK auf „gescheit“. Kein Zufall, da bin ich sicher!
    Ein Letztes zur Verwendung der Bezeichnung „Kultur“: Beachte bitte die Bedeutung(en) der Bezeichnung Kultur in der Gegenüberstellung von „GesprächsKultur“ und „KulturGespräch“.
    Merke: Die jeweils lebende Sprache ist ein probates Mittel für die Generierung von intentionalen Missverständnissen.
    LGvGEO

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