Streit-Kultur
„Wir haben verlernt zu streiten“ ist eine gerade in letzter Zeit häufig gehörte Feststellung. Aber was bedeutet das? Ist Streit nicht etwas von dem man uns beigebracht hat, wir sollten es tunlichst vermeiden? Was ist am Streit so positiv, dass sein Fehlen als Mangel wahrgenommen wird? Wenn wir den Streit abseits von sinnlosen Streitereien als die adäquate Auseinandersetzung mit anderen Positionen und Meinungen sehen, wird dies leichter verständlich. Denn plötzlich geht es nicht mehr um den Begriff des Streitens an sich, sondern nur mehr um die Form der Abwicklung eines Streitprozesses.
Vom Wesen her kann man beim Streit grundsätzlich zwischen dem offenen Wettbewerb unterschiedlicher Ansätze oder Überzeugungen einerseits und andererseits dem Ziel, in einem Kampf den eigenen Standpunkt durchzusetzen, unterscheiden. Schließlich macht es einen großen Unterschied, ob Gegner oder Feinde aufeinandertreffen. Dabei ist aber zusätzlich zu beachten, dass der Stil der Auseinandersetzung in beiden Fällen höchste Relevanz hat, weil da oft die Form des Streits dessen Inhalt überschattet oder vielfach sogar ersetzt. Daher gilt es, sich primär mit dem Wie des Vorgangs auseinanderzusetzen, eben der Streitkultur. Davor aber ein kleiner Exkurs zu verschiedenen Streitformen.
Fangen wir gleich einmal bei der oft recht erdigen, auf sachliche Durchsetzung gerichteten Form des Streits an: beim „Konflikt“ gibt es meist emotionale Aufladung oder gar aufgestaute Aggression auf einer oder auch beiden Seiten. Da versucht man dann in der Regel mittels Moderation oder Mediation zu einer Lösung, meist einem Kompromiss zu kommen. Auch bei der „Debatte“ geht es um „schlagende Argumente“; offenkundige Fehler oder Unlogisches auf der Gegenseite werden aufgezeigt, um die Korrektheit oder auch Überlegenheit des eigenen Zugangs zu demonstrieren. In der „Diskussion“ wiederum werden verschiedene Sichtweisen oder sachliche Kriterien einander gegenübergestellt. Im Normalfall, um derart gemeinsam zu einem neuen Ergebnis zu kommen. Oft geht es dabei auch darum, absolut gesetzte Teilaspekte in ihrer Relevanz für die Gesamtthematik einzuordnen, um einen produktiven und möglichst allgemeingültigen Ansatz zu finden.
Beim „Dialog“ ist dann eigentlich alles Streithafte bereits gewichen: gemeinsam begibt man sich auf die Erforschung von Ursachen und Möglichkeiten, um Verbesserungen oder auch Innovationen zu erreichen. Das kann technische, geistige oder auch emotionale Fragen betreffen. Die Bewertung erfolgt aber rein sachlich, ohne konkrete Schlussfolgerungen. Typisch ist dieser Zugang wohl für die Wissenschaft, wobei auch unter deren Repräsentanten nicht immer alles friktionsfrei läuft. In jedem Fall gibt es einen Konnex zur Politik, weil man dort auf der dialogisch gefundenen, sachlichen Basis Entscheidungen treffen muss oder müsste, wenn man nicht – wie oft – wenig mutig einfach nur abwartet.
Bleibt noch der „Diskurs“. Rein formal ist das ein Wettstreit der besseren Argumente für eine bestimmte Position, bezogen auf die jeweilige Problemstellung. Auch wenn letztlich als Ergebnis eine Kombination verschiedener Zugänge vorliegt geht es hier um die in der Sache optimale Lösung, nicht um den kleinsten gemeinsamen Nenner. Die vielen verschiedenen philosophischen Zugänge zum Thema Diskurs sind ein eigenes Kapitel.
Alle diese Formen der Auseinandersetzung können konstruktiv oder destruktiv, wertschätzend oder abwertend, ambitioniert oder verweigernd geführt werden. Eben je nach von den Teilnehmenden eingebrachter Streitkultur. Bei dieser gibt es allerdings oft auch Missverständnisse im Zusammenhang mit der richtigen Art von Argumentation:
- Empörung. Meist aus der Perspektive vorgeblicher moralischer Überlegenheit wird ein Vorbringen oder auch nur ein thematischer Ansatz mit plakativer Entrüstung brüsk zurückgewiesen; so kann man sich jede inhaltliche Argumentation sparen.
- Beleidigung. Persönliche, meist untergriffige Herabwürdigungen oder Unterstellungen, auch oft als Weiterführung der vorgenannten Empörung, erschweren eine sachliche Auseinandersetzung, verhindern oder ersetzen diese manchmal sogar. Umgekehrt ist das Beleidigtsein, weil die eigene Position einem Faktencheck nicht standhält, auch kein guter Weg. Besonders wenn dann noch ein Angriff auf den Faktenbringer erfolgt.
- Harmoniesucht. Das gegenteilige Extrem. Vor lauter Rücksichtnahme auf das Gegenüber vermeidet man Hinweise auf Schwächen eines Diskussionsbeitrags, akzeptiert sogar schlechte Resultate, nur um ja niemand zu kränken.
- Konsenszwang. Um der Verantwortlichkeit für seine eigene Meinung zu entgehen, verweigern rundum alle die Darstellung konkreter Positionierungen. Ein probates Mittel, um Diskussion oder Dialog erst gar nicht aufkommen zu lassen.
- Argumentationsfurcht. Jemand vertritt seine Position derart dominant, dass alle rundum lieber schweigen. Weil man glaubt, die eigene Sicht nicht durchzubringen und dann blöd dazustehen oder weil es in einer Hierarchie für mich vielleicht nicht hilfreich wäre, gegen Vorgesetzte zu argumentieren. Auch die Ignoranz von Thematik oder Fragestellung durch völlig zusammenhanglose Argumentation ist leider weit verbreitet.
Jetzt sollte ungefähr klar umrissen sein, welche Formen des Streitens uns zur Verfügung stehen und welche stilistischen, also kulturellen Fehler wir dabei vermeiden und schon gar nicht gezielt einsetzen sollten (das kennen wir allerdings leider von Politiker·innen), um zu wirklich guten Ergebnissen zu gelangen. Wie heißt es in Mozarts „Entführung“ so schön:
„Auf zum Streite!“
Liebe Kulturbeflissene,
den 100. Geburtstag von Walter Deutsch haben wir zum Anlass genommen, um uns mit unserer ursprünglichen Tätigkeit als Schallplattenproduzenten zu beschäftigen. Unter den etwa 80 unter eigenem Label veröffentlichten Tonträgern finden sich drei, die vom „Prawy [das war der geniale Oper-im-TV-Erklärer] der Volksmusik“ programmiert und kommentiert wurden. Alle drei sind jetzt bei uns einsehbar und können in Kürze auch nachgehört werden. Nur wenigen dürfte bekannt sein, dass sich damals auch der Arnold Schoenberg Chor mit diesem Genre befasst hat.
Wenn Sie über Ostern etwas Zeit haben dürfen wir Sie einladen, nicht nur unsere POSITIONEN zu lesen und zu kommentieren, sondern auch einmal bei unserer Website (www.kunstkult.at) in die Tiefe zu gehen. Zur leichteren Orientierung haben wir die Aktivitäten der Vergangenheit in drei Kategorien unterteilt:
Natürlich wollen wir auch gerne den Kreis unserer Leserinnen und Leser nach Tunlichkeit stetig erweitern. Sie wissen jemand, der sich für unser Angebot interessieren könnte? Nur zu; einfach über unsere Website anmelden oder gleich hier zu Interesse? weitergehen.
Genießen Sie das im Frühling rundum sprießende Angebot an Kunst und Kultur!
Peter Schneyder
Ein wesentliches Element einer „Streitkultur“ erscheint mir die rechtzeitige Erkenntnis (zumindest eines der Streitenden), dass der Streit an einem Punkt angelangt ist, bei dem bereits alles von allen Teilnehmern gesagt wurde und eine Weiterführung nur mehr zu unnötiger Aufschaukelung führen kann. Hier den richtigen Ton zu finden für den Vorschlag, die Diskussion hiermit zu beenden, ohne damit den Eindruck von Harmoniesucht oder Konsenszwang zu erwecken, bedarf sicher eines kühlen Kopfes – und auch hoffentlich eines verständnisvollen Streitpartners, der dies fair akzeptiert.
Das Kalkül beim Streiten
Solange man in dieser „Streitfrage“ in gesitteten Bahnen bleibt, sind sowohl Inhalt als auch Folgerungen des Beitrags ziemlich vollständig umrissen und auch unstrittig.
Wie jedoch die Lebenserfahrung zeigt, sind genau jene Teilaspekte von Streit, welche im Beitrag mit „gar aufgestaute Aggression“ abgelehnt werden, Thema vieler wissenschaftlichen und schriftstellerischen Arbeiten. Sie sind auch die eigentlichen „Aufreger“ in den Medien, denn dort weiß man, dass eine „kultivierte“ Auseinandersetzung kaum Quoten bringt.
Man muss sich also mit jenen Formen der Streitkultur forschend auseinandersetzen, die ins Extreme – bis zum Suizid oder umgekehrt zu Mord und Totschlag – führen können. Denn es ist klar, dass die zerstörerische Kraft, die in jeder Auseinandersetzung schlummert, von den Beteiligten nicht immer kontrolliert werden kann. Es sind Menschen, die im Streit zusammentreffen, und die beherrschen bei allem Bemühen eben nicht immer die eigenen Emotionen oder Aggressionen. Man kann sich noch so sehr bemühen: Diese Gefühlszustände wird man niemals völlig „wegerziehen“ können, so sehr man es auch versucht. Man darf auch nicht vergessen, dass die intellektuelle Ausstattung des Einzelnen mitspielt. Wenn jemand erkennt, dass er einer Diskussion nicht folgen kann, wird er fast immer untergriffig oder gar gewalttätig werden.
Anderseits ist der Ablauf einer strittigen Konfrontation erst wirklich wahrhaftig, wenn die Kontrahenten tatsächlich bis zum Letzten – das ist nun einmal der Einsatz des eigenen Lebens – zu gehen bereit sind. Sonst – bei aller Wertschätzung gesitteter Streitkultur – ist unsicher, ob die vorgebrachten Argumente nicht vorgetäuscht, falsch oder gar irreführend sind. Wie unzählige Gerichtsverfahren seit Menschengedenken belegen, gibt es Auseinandersetzungen, die sich aus den verschiedensten Gründen einer argumentativen „Streitkultur“ entziehen. Das wird so bleiben, solange es Menschen gibt.
In diesem Zusammenhang sind Begriffe wie „Ehre“, „Handschlagqualität“, „Fairness“ Vokabeln, welche in der Geschichte unserer Spezies schon oft missbraucht wurden, um als Verstärker eigener Positionen herzuhalten. Man darf ja nie vergessen, dass Streitende immer irgendein Ziel verfolgen. Und diese Ziele sind meist Macht oder Geld…