(An)Führerkult(ur)

Für Elias Canetti ist in seinem Werk „Masse und Macht“ der Dirigent ein Inbegriff von Macht, ein „Führer“ (ein Begriff, den der in Bulgarien geborene Exil-Österreicher immerhin noch 1960 in diesem Zusammenhang offensichtlich bewusst wählt): Die Musiker·innen folgen dessen Anweisungen, das Publikum blickt zu ihm auf. Die einen tun dies, weil ihnen bewusst ist, dass ohne diese Unterordnung kein qualitätvolles Musizieren möglich wäre, die anderen, weil sie in ihm Motor und Garant für ihr Musikerlebnis sehen. Letztlich gibt es Applaus und die Einordnung in diese Machtstrukturen bedeutet für alle Beteiligten den Gewinn eines wie immer gearteten Glücksgefühls (sofern wir die Unzufriedenen ausblenden; aber auch die stellen ja das System nicht in Frage, sonst wären sie nicht dort).

Die Akzeptanz einer derartigen Rollenverteilung zum Vorteil aller Involvierten (Gagen, Ruhm und Zufriedenheit für die Ausführenden, positives Erlebnis für die Zuhörenden) entspricht den Verhaltensweisen in Rudeln und Herden der Tierwelt. Grundlage ist dabei die evolutionäre Erkenntnis, dass geeintes Vorgehen einer Gruppe diese stärker – „mächtiger“ – macht als individuelle Aktionen Einzelner. Um diesen Effekt zu erzielen ist aber jemand erforderlich, der alle auf ein Ziel hin orientiert und koordiniert, also „den Takt vorgibt“. Egal ob Leitwolf oder Leitkuh, immer geht es um Sicherheit und (Über)Leben, aber auch um Wohlbefinden und Vorteile verschiedenster Art.

Die Parallelen zum Menschen und vor allem zu politischer Argumentation und Rechtfertigung sind unübersehbar. Allein die Begriffe „Sicherheitsinteresse“ und „Lebensraum“ begegnen uns regelmäßig als Begründungen für kriegerische Aktionen, die tatsächliche oder vorgebliche Verteidigung eines „Reviers“ ist auch bei uns eine seit Jahrhunderten gepflogene Rechtfertigung für den Einsatz von militärischer, aber auch von wirtschaftlicher oder medialer Gewalt, um ein wie immer gefundenes und in seiner zwingenden Notwendigkeit oft mit absurd unlogischen Argumenten begründetes Ziel zu erreichen.

An der Spitze steht dabei immer jemand, der erklärt, motiviert oder droht, der eben „führt“. Diese Position einzunehmen ist dieser Person nur möglich, weil sie dazu ermächtigt wurde oder weil sie sich dazu ermächtigt hat. Im Tierreich wird dies im Normalfall durch Erfolg im Kampf entschieden, fallweise aufgrund besonderer Fähigkeiten oder auch von Seniorität. Ganz wie bei uns, allerdings wird die Stärke der Leitfigur im Humanbereich kaum mehr im Zweikampf festgestellt.

Schon in frühen Kulturen wurden Anführer irgendwie ausgewählt: Aufgrund evidenter Leistungen, durch mehrheitliche Nominierung in der Gruppe oder auch durch zufällige Auslosung. Letztlich folgt unsere Demokratie genau diesen Prinzipien. Wobei die völlig verschiedene Periodizität der Machtbefugnis einen gewaltigen Unterschied bewirkt. Es ist nun einmal höchst relevant, ob eine Person für einen punktuellen Zweck, einen definierten Zeitraum oder lebenslang als Führungsfigur berufen wird.

Schon früh tauchte aber parallel zu anderswo durchaus weiterhin gepflogenen mehr oder minder demokratischen Vorgehensweisen die Idee auf, der „Familie“ die entsprechenden Machtpositionen dauerhaft zu sichern. Unter Zuhilfenahme transzendenter Argumentation, verbreitet und durchgesetzt durch eine an der Macht beteiligte religiöse Kaste, wurde eine Hierarchie der Wertigkeit und Bedeutung unter den Mitgliedern einer Sozietät geschaffen, die den Gleicheren die Macht durch dynastische Erblichkeit bescherte.

Bereits im Altertum beginnend wurde diese willkürliche Auslese – es soll ja bei den derart ausgewählten bis heute nicht nur Lichtgestalten geben – den Untertanen derart eingetrichtert, dass diese, jedem logischen, auch nur halbwegs modernem Rechtfertigungsansatz zuwiderlaufende Anmaßung auch unter sich als Demokraten fühlenden als selbstverständlich und gottgewollt gesehen wird. Bei Monarchisten wird ja sogar die groteske Idee eines „Gottesgnadentums“ bis heute als realer Anspruch gesehen.

Nun ist nachvollziehbar, dass dort, wo der Machtanspruch mit rigiden Mitteln bis hin zu brutaler Gewalt durchgesetzt wird, eine Unterordnung und zwangsläufige Akzeptanz dieser Repression bei den nicht zur Nomenklatura zählenden erfolgt. Wieso aber gibt es im 21. Jahrhundert abertausende Menschen, die sich freiwillig einem derartig tradierten Regime unterordnen? Ja, dieses geradezu als der Weisheit letzten Schluss begrüßen! Noch dazu, wo diese Regenten heutzutage im Normalfall über keinerlei reale Macht mehr verfügen. Aber vielleicht ist es auch gerade diese Ungefährlichkeit und das Erhebende eines aus der Zeit gefallenen Zeremoniells, das die Sehnsucht begründet, jemanden verehren zu dürfen.

Für die Wiener war „a schene Leich“ immer schon etwas Wichtiges; wenn es dann auch noch um gekrönte Häupter geht, gibt es kein Halten mehr. Da muss man hin, da will man selbstverständlich (A)dabei sein. Ist dieses Bedürfnis wirklich etwas das man wie Kunst als „Lebensmittel“ sehen darf und muss? Die Form gibt Halt und zweifellos können auch de facto ohnmächtige Leitfiguren enorme Motivation erzeugen. Wobei die Bandbreite in der Rezeption, vom naiven Anhimmeln der als bewundernswerte Führer gesehenen bis zum auf persönliche Vorteile zielenden Herumscharwenzeln um dieselben doch demonstriert, dass sich die emotionale Seite der Menschen mit sachlicher Analyse wohl nicht wirklich erfassen lässt.

Oder gibt es da etwas, das übersehen wurde? Was meinen Sie?

FORUM

1 Kommentar
  1. Gerhard Reznicek sagte:

    Die Sehnsucht nach einem Führer

    „Die Macht geht vom Volke aus“. Dieser oft zitierte Satz in den verschiedenen Verfassungen vieler Staaten ist zwar eindeutig, wird aber meist in der realen Welt nicht wörtlich genommen.

    Es ist in unseren Massengesellschaften ziemlich schwierig, bei jeder Entscheidung das Volk zu fragen – wie soll das auch technisch ablaufen? Deshalb wird in unseren Demokratien diese Macht durch Personen, die wir bei mehr oder weniger demokratischen Wahlen bestimmen, ausgeübt. Wegen unserer lückenhaften Information, auch wegen des fehlenden Detailwissens, müssen wir fast alle wichtigen Fragen über Handel und Wandel, über die Organisation unseres Zusammenlebens und Details von Verwaltung und Gesetzgebung, diesen Leuten überlassen. Natürlich haben diese „Beauftragten“ eigene Bedürfnisse als auch persönliche Interessen und sind nicht immer fehlerfrei – es sind halt auch nur Menschen.

    Das führte schon immer zum Protest, ja zum Aufbegehren von Bürgern, die sich mit den Unzulänglichkeiten des Systems, mit den Fehlern der „Politiker“ – so nennen wir die von uns beauftragten Leute -, und mit dem manchmal bekannt werdenden Machtmissbrauch, nicht abfinden wollen. Sie behaupten, es müsse auch anders gehen, konsequenter, sauberer, gerechter, die Entscheidungen könnten viel rascher getroffen werden, und vor allem – ehrlicher.

    Das ist die Ursache, dass im Dunst des Biertisches von Manchem ziemlich laut nach einem ehrlichen, starken Macher gerufen wird, der „diesen Saustall“ endlich ausräumen würde, diese „Verbrecher“ zur Rechenschaft ziehen und wieder Ordnung schaffen würde. Also muss ein „Führer“ her! Man kann diese Aussagen durchaus verstehen, wenn man unsere aktuelle Situation kritisch betrachtet.

    Die Sache mit den politischen „Führern“ hat jedoch eine Besonderheit, die man nicht gleich sieht, deshalb wird sie oft nicht wahrgenommen: Macht verändert die meisten Menschen. Jeder, der andere zu bestimmtem Handeln – freiwillig oder durch Druck (das muss nicht unbedingt Gewalt sein!) – „führt“, gewinnt durch den Erfolg seiner Aktivitäten Autorität. Und weil es den meisten Menschen nicht so leicht fällt, über allzu viele Details einer Sache ständig nachzudenken, übernehmen sie häufig auch das Denken und die Argumente erfolgreicher „Führer“. Der einfache Mann auf der Straße merkt das oft nicht einmal. Diese natürliche Gesetzmäßigkeit ist auch für die Rudelbildung im Tierreich verantwortlich. Dort wird jedoch durch die natürlichen Abläufe die Herrschaft des Rudelführers nach einigen Jahren „Regie-rungszeit“ beendet. Er wird nach einem kurzen oder auch längeren Kampf durch einen neuen, jüngeren Leithammel, Leitwolf oder Silberrücken ersetzt.

    Bei uns Menschen läuft das jedoch etwas anders: Die Anfangszeit eines politischen Führers geht fast immer mit begeisterter Zustimmung seines „Volkes“ einher. Er hat versprochen (und versucht es vielleicht auch), irgendwelche drückenden Missstände abzustellen oder zu beseitigen. Er glaubt erkannt zu haben, was die Ursachen vieler Probleme sind, und meint auch zu wissen, was man dagegen tun muss. Beim Gebrauch seiner neuen Macht wird ihm durchaus auch gewaltsames Vorgehen verziehen. Schließlich – was den Menschen Kummer, Ärger oder auch Schmerz bereitet hat, will er ja überwinden.

    Weil ihm alle dankbar sind und das auch zum Ausdruck bringen, kann er schon nach kurzer Zeit mit Kritik nicht mehr richtig umgehen. Inzwischen hat er nämlich aus seinen treuesten Anhängern einen Kreis gebildet, der ihn bei seinen Bemühungen in seinem Sinn und nach seinen Vorgaben unterstützt. Kritik dringt kaum mehr zu ihm durch. Aber er selbst und die klügeren seiner Gefolgsleute, aber auch viele Andersdenkende, bemerken, dass entweder die Probleme doch nicht gelöst sind, oder dass jetzt andere Schwierigkeiten auftauchen und sich bemerkbar machen.

    Jetzt merkt er meist auch, dass viele seiner Anhänger Opportunisten sind, die nur nachplappern, was er ihnen erzählt. Das ärgert ihn – er will ja die Intelligenz seines Volkes gewinnen. Er stellt fest, dass ihm zwar viele zujubeln, die meisten ihn aber in Wahrheit nicht verstehen. Das macht ihn misstrauisch und zerstört seine Empathie. Er verliert jetzt auch den Respekt für die einfachen Menschen seines Volkes. Leute, die seine Aktivitäten gar kritisieren, sind für ihn Feinde. Er kann nichts anderes er-kennen, auch wenn ihre Kritik wirklich konstruktiv und eigentlich gut gemeint ist. Und weil es gut und richtig ist, was er tut (das bestätigen ihm ja seine Freunde und Anhänger täglich!), sind harte Maßnahmen gegen solche Kritiker oder Gegner gerechtfertigt.

    Und schon ist ein bejubelter Revolutionär zum Diktator mutiert!

    Das hört sich sehr nach großer Politik an. Aber soweit muss man nicht gehen. Auch in Unternehmen kommt es im Lauf der Jahre zu despotischen Chefs, die keinen Widerspruch dulden, Leute kurzerhand entlassen, nur weil sie bei irgendeinem technischen oder betrieblichen Detail widersprochen haben. Ich denke z.B. auch an den viele Jahre sehr geliebten Chefdirigenten meines Orchesters, der zuletzt hinter jeder leisen Frage, ob das oder jenes wirklich sein müsse, Verrat witterte.

    Dadurch habe ich eine solide Skepsis gegen sogenannte Macher entwickelt. Jeder Bürger sollte misstrauisch werden, wenn er Rufe nach einem „Führer“ hört, der Ordnung schaffen soll. In Krisenzeiten wie jetzt braucht es überlegtes und zielsicheres Handeln. Da sind Leute gefragt, die sich durchsetzen und rasch das Richtige tun. Die Gefahr ist aber immer groß, dass diese beim Gebrauch von Macht auf den Geschmack kommen. Man merkt dann viel zu spät, dass man sich dabei auf jemand eingelassen hat, der partout nicht mehr vom Pferd herunter will …
    Gerhard Reznicek, Oktober 2022

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