Welche Werte hat [meine] Kultur?

Wenn Kultur die Summe all dessen ist, das uns/mir etwas wert ist oder für uns/mich einen (wichtigen, unverzichtbaren, …) Wert darstellt, dann sollte man sich wohl unbedingt einmal bewusst machen, was alles dieses Bündel jener Gegebenheiten und Angebote umfasst, die unsere/meine jeweilige Kultur bestimmen. Dies ist bei näherer Betrachtung gar nicht so leicht, folglich mühsam und wird daher im Normalfall unterlassen. Das gilt im individuellen Bereich ebenso wie im großen, gesellschaftlichen Maßstab. Wir geben vor, genau über die Parameter „unserer Kultur“ Bescheid zu wissen, sind aber nur in den seltensten Fällen in der Lage, diese auch spontan zu benennen.

Auf europäischer Ebene beschäftigt sich die 1954 vom Europarat verabschiedete Europäische Kulturkonvention ausschließlich mit dem Schutz kulturellen Erbes; von archäologischen Grabungsstätten und prächtigen Bauten bis zu Film und Internet bzw. Digitalisierung. 2015 ging es dann auch noch um „interkulturelle Integration“. Einen Wertekanon für Europa sucht man vergeblich. Und der EU geht es in Sachen Kultur ausschließlich darum, Eigenheiten ihrer Mitgliedsstaaten Raum zu geben (etwa, dass eine Marille auch Aprikose heißen darf – und umgekehrt – oder Mazedonien im Namen das Präfix „Nord“ führen muss).

Dabei wird unsere Art zu leben ganz wesentlich durch das für eine Sozietät gültige Regelwerk bestimmt. Dieses wiederum ist rein technisch die Sammlung aller, von diversen politischen Repräsentant·innen und Gremien geschaffenen und immer wieder adaptierten Gesetze und Verordnungen. Da lassen sich durchaus eine ganze Reihe für uns verbindliche und wesentliche Werte ableiten: freie Meinungsäußerung, (zumindest geforderte) durchgängige Gleichberechtigung aller unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung, freier Zugang zu Bildung, keine Todesstrafe u.v.a.m. Dass dies selbst in Europa, vor allem wenn wir unseren Kontinent geografisch vom Atlantik bis hin zu Ural und Bosporus sehen, nicht immer selbstverständliche Postulate sind, zeigt sich leider immer wieder und gerade auch aktuell mehr als deutlich.

Obwohl dieser rechtliche Rahmen unser tägliches Leben wesentlich determiniert würde man kaum an diese Vorgaben denken, wenn es um kulturelle Werte geht. Viel eher kommen einem da nicht verordnete, aber kulturell höchst bedeutsame gesellschaftliche Aktivitäten vom Sportverein bis zu Blasmusik oder Kirchenchor in den Sinn. Dazu national, regional oder lokal zuordenbare Traditionen oder auch Verhaltensweisen, deren Definition und Einordnung eher willkürlich erfolgt. Vor allem passiert dies in der Selbstsicht naturgemäß anders als in jener von Außenstehenden. Übereinstimmend wird immerhin sprachliche Eigenart als spezifisches kulturelles Merkmal und auch als wertig akzeptiert. Aber wie ist das mit orts- oder anlassspezifischer (Ver)Kleidung? Welchen Stellenwert haben oberflächliche Erscheinungsbilder für Kultur im Vergleich zu den eingangs erwähnten, profunden gesellschaftlichen Werten?

Richtig gefährlich wird kulturelle Eigenart, sobald sie religiös begründet oder durch überkommene Traditionen geprägt wird. Sobald etwas als „heilig“ oder – oft noch schlimmer – als Frage der Ehre abgehandelt wird und aus diesen rational selten nachvollziehbaren Festlegungen Ge- und Verbote sowie sogar Sendungsaufträge resultieren, mutiert die individuell frei wählbare Lebensart zum strengen Joch, das auch nicht mehr hinterfragt werden darf. Aber selbst derart gegängelte oder sogar aufgezwungene (Un)Kultur orientiert sich an einer Werteskala. Allerdings sind wir dann vom lustigen Maibaumaufstellen schon sehr weit entfernt oder es wird – wie historische Beispiele eindrücklich zeigen – derartiges Brauchtum im Sinn der jeweiligen Machthaber brutal instrumentalisiert.

Wenn wir also davon ausgehen, dass unsere jeweilige Kultur ein wertebestimmtes System ist, in dem wir – gerne oder aber vielleicht sogar unfreiwillig – leben, dann scheint es geradezu unverständlich, dass dieser Thematik nicht mehr Aufmerksamkeit zuteilwird. Oder wollen wir vielleicht gar nicht so genau wissen, was unser Leben in allen Bereichen bestimmt? Genügt es uns, intuitiv eine vage Vorstellung davon zu haben, wer und wie wir sind; speziell als Abgrenzungsbasis gegenüber all jenen, die unserem Empfinden nach „anders“ sind? Damit sollten wir uns als unausweichlich „Kulturmenschen“ seiende doch wohl profund auseinandersetzen.

Damit das Infragestellen vom Wesen (meiner) Kultur noch eine zusätzliche Facette gewinnt müssen wir konsequenter Weise auch überlegen, ob die eingangs als selbstverständlich postulierte Annahme, Kultur würde durch Werte definiert, ausschließlich und tatsächlich stimmt oder ob nicht vielleicht ein anderer Zugang ebenso möglich wäre. Was meint Jürgen Habermas, wenn er Kultur als „eine Art Vorrat möglicher Themen, die für rasche und rasch verständliche Aufnahme in konkreten kommunikativen Prozessen bereitstehen“ beschreibt? Sind die angesprochenen „Themen“ die Eckpfeiler unserer Kultur, eben die Werte? Soll der Hinweis auf Kommunikation klarstellen, dass Kultur etwas ist, das sich immer auf die Position des Individuums in der Gemeinschaft bezieht? Haben wir uns das alles schon einmal ernsthaft bewusst gemacht?

FORUM

3 Kommentare
  1. Gunar Letzbor sagte:

    Als Gymnasiast machten wir einmal eine Aktion im neurenovierten Ursulinenhof von Linz.
    Im Hof stellten wir eine Leiter auf und einer von uns begann, mit einem Pinsel den Himmel imaginär anzumahlen. Die anderen interviewten mit einer Super 8 Kamera und einem Kassettenrekorder Spaziergänger. Auf die Frage, ob das Kunst sei, sagte ein Herr: „Jo, do kunst narrisch werden“.
    Blöd oder ehrlich?
    Die Frage der Ehrlichkeit ist wohl bei jeder Kunstaktion und deren Beurteilung zu stellen.
    Kunst ist menschengeschaffen und daher einer Moral unterworfen.
    Wer fragt heute noch nach Moral? Wo findet man die Moral? Ist das Christentum noch moralisch tragend für unseren Kulturkreis? Gibt es also überhaupt globale Kunst? Wenn Kunst der Moral unterworfen ist, dann ist sie von den moralischen Gesetzen der Gesellschaft abhängig.
    Hier könnte die Grenze zwischen Scharlatanerie und wahrer Kunst gezogen werden. Wahre Kunst muss sich also zuhause fühlen, ein Umfeld, ein menschliches Gegenüber haben. Sie muss kommunizieren. Haben wir also damals Scheisse produziert oder Kunst?
    saluti

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    • PS sagte:

      Dass die Frage, was denn eigentlich Kunst ist, nur schwer bis gar nicht objektiv beantwortet werden kann, haben wir bereits in der ersten Ausgabe der POSITIONEN festgestellt. Der moralische Aspekt in der Wertedebatte ist ein wahrscheinlich mindestens ebenso schwieriges Terrain. Einerseits die Abgrenzung zwischen künstlerischer Freiheit und deren Grenzen, andererseits die Überlegung, inwieweit Kunst eine Aufgabe haben darf/soll/muss (siehe „Kunstgenuss!?“) oder eben nicht bzw. die Einordnung, wo die künstlerische Verantwortung im Zusammenhang mit dem Schutz von Rezipienten in (Selbst)Zensur mündet.

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